KEINE AUSBILDUNG FÜR ANGEHENDE DICHTER
Bereits mit 13 Jahren, im Jahr 1890, wusste Hermann Hesse, was er werden wollte: „entweder Dichter oder gar nichts“. Doch die Schule bildete ihn seiner Meinung nach dafür nicht aus: „Zu allen Berufen der Welt gab es einen Weg, gab es Vorbedingungen, gab es eine Schule, einen Unterricht für Anfänger. Bloß für den Dichter gab es das nicht“, blickt er 1925 in seinem „Kurzgefassten Lebenslauf“ enttäuscht auf seine Schulzeit zurück. „Ein Dichter zu werden aber, das war unmöglich, es werden zu wollen, war eine Lächerlichkeit, eine Schande, wie ich sehr bald erfuhr“, beklagt er auch 35 Jahre später noch die Umstände. Seine Eltern Johannes und Marie Hesse hatten für ihren Sohn eine Theologenlaufbahn vorgesehen: Hermann wurde im September 1891 an das evangelisch-theologische Seminar im Kloster Maulbronn aufgenommen.
ÜBERSTÜRZTE FLUCHT AUS DEM KLOSTER
Tiefe Verzweiflung brachte ihn schließlich dazu, am 7. März 1892 zu fliehen: „Hermann fehlt seit 2 Uhr. Bitte um etwaige Auskunft. Professor Paulus.“ Seine Eltern in Calw versetzte das Telegramm aus dem Seminar verständlicherweise in Schrecken: „Wir wissen nichts. Bitte Beruhigung telegraphieren!“, schrieben sie an den Lehrer zurück. Kurz nach dem Mittagessen war Hermann Hesse davongerannt – ohne Geld und Mantel. Schon im Nachmittagsunterricht wurde sein Fehlen bemerkt. Als er nach einiger Zeit nicht zurückkehrte, machte sich seine Schulklasse auf die Suche nach ihm. Die anderen Seminaristen verbrachten den restlichen Tag damit, die Wälder um Maulbronn nach Hermann zu durchsuchen.
EINE KALTE NACHT AUF DEM FELD
Marie Hesse, die Mutter Hermanns, verbrachte qualvolle Stunden. In ihrem Tagebuch schreibt sie. „War das eine Schmerzensnacht! (…) Zuerst hatte mich die Angst, Hermann sei in besondere Sünde und Schande gefallen, es seit dem Entweichen etwas besondres Böses vorausgegangen ganz qualvoll gefoltert, so daß ich ganz dankbar wurde, als ich endlich das Gefühl bekam, er sei in Gottes barmherziger Hand, vielleicht schon ganz bei Ihm, erlöst, gestorben.“ 23 Stunden später stellte sich Erleichterung ein: Hermann wurde von einem Landjäger aufgegriffen, 10 Kilometer nördlich von Maulbronn, und ins Kloster zurückgebracht: „Hermann wohlbehalten zurück“, telegrafiert sein Lehrer Paulus daraufhin an die Eltern.
REUMÜTIG UND DOCH ETWAS STOLZ
Am darauffolgenden Tag schrieb Hermann einen Brief an seine Eltern. Stolz und zugleich reumütig erzählte er: „Ich kam in den 23 Stunden in Württemberg, Baden und Hessen herum. Außer der Nacht vom Abend 8 Uhr bis morgens ½ 5 Uhr die ich auf freiem Feld bei 7 Grad minus zubrachte, war ich die ganze Zeit auf den Füßen. (…) Bitte liebt mich noch wie vorher. In Eile, Hermann.“ Vom Maulbronner Seminar wurde Hermann wenig später für sein unerlaubtes Fehlen bestraft: Acht Stunden musste er im Karzer bei Brot und Wasser absitzen. Hesses Mutter notiert noch im März in ihr Tagebuch: Hermanns Lehrer „fürchten partielle Geistesverwirrung, etwas Krankhaftes“. Professor Paulus erklärte den Eltern, dass ihr Sohn „öfters in einem Zustand größter Erregtheit“ wäre, „in welchem er überschwengliche, zum Teil überspannte Gedichte zu verfassten pflegte“. Der Aufenthalt Hermanns in Maulbronn könnte „für seine Mitschüler eine Gefahr werden“.
AUF DER SUCHE NACH EINEM PLATZ
Nach seiner Flucht war Hesse nervlich angeschlagen; wegen eines Selbstmordversuchs brachten ihn seine Eltern sogar in die Nervenheilanstalt Stetten. Ab November 1892 besuchte er das Gymnasium in Cannstatt und legte dort ein Jahr später die Obersekundarreife ab. Es folgten mehrere, kurze und misslingende Stationen. Erst die 1895 begonnene Buchhändlerlehre in Tübingen schloss er ab. Er veröffentlichte erste Gedichte und 1899 ein erstes Buch. Im selben Jahr zog er nach Basel und arbeitete zuerst als Buchhandelsgehilfe, später als Buchhändler. Parallel begann er für die Allgemeine Schweizer Zeitung zu schreiben – und zu reisen: durch die Schweiz und nach Italien.
BERÜHMTER SCHÜLER
Dass Hermann Hesse in Maulbronn ins Seminar geschickt wurde, war im Grunde vorgezeichnet: Bereits sein Großvater Hermann Gundert erhielt dort seine Ausbildung. Er wurde später Missionar in Südindien. Der Werdegang seines Großvaters schien Hesse zu inspirieren: 1911 reiste er mit einem Freund nach Ceylon, und weiter nach Malaysia, Singapur und Sumatra. Seine Erlebnisse verarbeitete er in „Aus Indien“, das 1913 erschien. Was Großvater und Enkel ebenfalls teilten: die Liebe zur Sprache. Gundert machte sich neben seiner Missionarstätigkeit einen Namen als Sprachwissenschaftler. Nach Maulbronn kehrte Herrmann Hesse nach seiner Schulzeit noch einmal zurück: Im Jahr 1914 besuchte er die Klosteranlage. Damals entstand das Gedicht „Im Maulbronner Kreuzgang“. An Hesses Zeit als Schüler und an seine Bedeutung als Dichter erinnert heute das Literaturmuseum im UNESCO-Denkmal.
WELTWEIT DER MEISTGELESENE DEUTSCHE AUTOR
Ab 1919 lebte Hermann Hesse in Montagnola im Tessin; ab 1924 war er Schweizer Staatsbürger. Im Tessin entstanden seine großen Werke. 1927 gelang ihm mit dem „Steppenwolf“ international der Durchbruch. Romane und Erzählungen wie „Siddharta. Eine indische Dichtung“ (1922), „Narziß und Goldmund“ (1930) und das „Glasperlenspiel“, das wegen des Nazi-Regimes 1943 in Zürich veröffentlicht wurde, zählen heute zur Welt- und Schullektüre. Seine Bücher wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt, erschienen weltweit in einer Gesamtauflage von über 100 Millionen Exemplaren. Damit gilt er als der meistgelesene deutschsprachige Autor des 20. Jahrhunderts. Unter den Nationalsozialisten galt er als „Vaterlandsverräter“. 1946 erhält er den Nobelpreis für Literatur: „Für seine inspirierte Verfasserschaft, die in ihrer Entwicklung neben Kühnheit und Tiefe zugleich klassische Humanitätsideale und hohe Stilwerte vertritt“, wie es in der Begründung des Nobelpreis-Komitees heißt. Schon seit 1924 hatte Hermann Hesse die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen.
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